Das alte Europa antwortet Herrn Rumsfeld

Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.01.2003

"Frankreich ist ein Problem, Deutschland ist ein Problem" - Französische und deutsche Intellektuelle reagieren auf eine amerikanische Provokation

Was antwortet man Donald Rumsfeld? Auf diesen Seiten stehen Vorschläge. Sie bescheinigen Rumsfelds Rede das Zeug zur historischen Zäsur. Seine Provokation eröffnet einen neuen Konflikt. Amerika, das ist als letzte politische Autorität: ein Präsident, Europa, das ist als letzte moralische Autorität: ein Papst. Alt und gebrechlich wie den Papst beschreibt Amerika den Kern Europas. Doch nicht, daß Frankreich und Deutschland als altersschwach geschmäht werden, weckt Widerspruch. Es ist vielmehr der Umstand, daß die Amerikaner in der Kriegsunwilligkeit halb Europas nur Starrsinn, nicht Erfahrung erkennen wollen. Was immer an Wahltaktik bei deutschen und französischen Politikern im Spiel sein mag - das "alte Europa" besteht aus den Erfahrungen unzähliger Generationen, die ohne Ausnahme Erfahrungen des Krieges gewesen sind. Wie ernst sie genommen werden, zeigt die Kriegsskepsis aller Parteien. Eben noch wollten wir den Jahrestag der deutsch-französischen Freundschaft als gefeiert abhaken. Jetzt sagen wir mit Paul Valéry aus dem Jahre 1919: "Der heutige Tag stellt uns vor eine Frage von höchster Wichtigkeit: Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlandes? Oder aber wird Europa das bleiben, was es scheinbar ist: der kostbarste Teil unserer Erde, die Krone unseres Planeten, das Gehirn eines umfänglichen Körpers?" schi.

Jürgen Habermas: Neue Welt Europa.

Das säkulare Selbstverständnis der Neuen Welt zehrt von einem christlichen Erbe, von der Parteinahme für den ordo rerum novarum. Aus dem alten Europa waren es nicht die schlechtesten Geister, die sich von diesem Pathos des neuen Anfangs haben anstecken lassen - erst recht seit 1945. Auf den Flügeln dieses amerikanischen Geistes hat sich hierzulande eine normative Denkungsart gegen alte Mentalitäten durchgesetzt - gegen den realpolitischen Zynismus der Abgebrühten, gegen die konservative Kulturkritik der Feinsinnigen und gegen den anthropologischen Pessimismus derer, die auf Gewalt und gewalthabende Institutionen setzen. Es ist eine merkwürdige Verkehrung der Fronten, wenn Rumsfeld - der Politiker des von außen erzwungenen "Regimewechsels" und der Theoretiker des "preemptive strike" - dieses neue Europa "das alte" nennt. Er selbst verantwortet eine Sicherheitsdoktrin, die völkerrechtlichen Grundsätzen spottet. In der Kritik seiner europäischen Freunde begegnen ihm die preisgegebenen eigenen, die amerikanischen Ideale des 18. Jahrhunderts. Aus dem Geist dieser politischen Aufklärung sind ja die Menschenrechtserklärung und die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen, sind jene völkerrechtlichen Innovationen hervorgegangen, die heute in Europa eher Anhang zu finden scheinen als in der ziemlich alt aussehenden Neuen Welt.

Der Philosoph Jürgen Habermas veröffentlichte zuletzt "Glauben und Wissen."

Joseph Rovan: Zwei Großmächte.

Aus der Äußerung des amerikanischen Verteidigungsministers ergibt sich die Notwendigkeit, daß sich Europa neben den Vereinigten Staaten, China, Rußland und Indien als Weltmacht konstituiert und von der Dominanz der Vereinigten Staaten frei macht. Frankreich und Deutschland - die beiden Länder, die für Rumsfeld "das Problem" sind - müssen die Initiative ergreifen und die übrigen Staaten Europas für dieses Ziel gewinnen. Dieses Europa wird zwar die Türkei nicht umfassen, aber besondere, positive Beziehungen zur Türkei und zu den nordafrikanischen Ländern haben. Innerhalb Europas wird Polen zusammen mit Frankreich und Deutschland ein führendes Element zur Herstellung der europäischen Union sein. Frankreich, Deutschland und Polen sind dazu berufen, die politische und kulturelle Einigung Europas zu verwirklichen. Dieses Europa wird von der Oder bis Gibraltar und von Island bis Saloniki reichen.

Der Historiker Joseph Rovan ist emeritierter Professor für deutsche Geschichte und war Herausgeber der Zeitschrift "Documents".

Peter Sloterdijk: Postheroische Politik.

Man muß dem Kriegsminister Rumsfeld dankbar sein: Es ist die reine Wahrheit, daß Frankreich ein Problem ist und daß Deutschland ein Problem ist. Leider enthalten die Äußerungen des Ministers keinen Hinweis darauf, daß er die Natur des Problems zu verstehen versucht. Immerhin addiert er die beiden nein sagenden Staaten und stellt sie der größeren Gruppe der ja sagenden gegenüber - mit dem Ergebnis, daß Europa gespalten erscheint in ein bush-kompatibles und ein nicht-bush-kompatibles Lager. Dies ist deutlich, wenn auch falsch. Geben wir es zu: Tatsächlich läuft eine Spaltung durch die westliche Welt, aber ihre Bruchlinie wird durch die Rumsfeldschen Vulgaritäten nicht erkennbar. Das alte Europa, durch Frankreich und Deutschland ehrenvoll vertreten, ist die avancierte Fraktion des Westens, die sich unter dem Eindruck der Lektionen des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem postheroischen Kulturstil - und einer entsprechenden Politik - bekehrt hat; hingegen sitzen die Vereinigten Staaten in den Konventionen des Heroismus fest. Helden vom Typus Rumsfeld und Bush sind von dem Glauben erfüllt, daß es die Gewalt ist, die frei macht, und daß Kultur und Gesetze nur bei schönem Wetter gelten. Der Streit geht um den Sinn von "Realität": Rumsfeld meint, die USA betrieben Realpolitik; die Problematischen in Europa denken eher, daß in Washington der Realinfantilismus an der Macht ist.

Der Philosoph Peter Sloterdijk ist Direktor der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Zuletzt erschien von ihm: "Luftbeben. An den Wurzeln des Terrors".

André Glucksmann: Einig im Nichtstun.

Die sogenannte gemeinsame Position Frankreichs und Deutschlands ist nur eine scheinbare: Schröder hat erklärt, daß sein Land an einem Krieg gegen den Irak unter keinen Umständen mitmachen werde. Chirac läßt diese Frage offen. Es gibt kein übereinkommendes Engagement - man ist sich nur einig, wenn es um das Abseitsstehen geht. Frankreich und Deutschland sind sich einig, nichts gegen Putin zu unternehmen. Und sie schauen zu, wenn die Vertreterin Libyens an die Spitze der UN-Menschenrechtskommission gewählt wird - was schon merkwürdig ist. Wir sind am Nullpunkt des Engagements angekommen und erreichen die Unendlichkeit im Bereich des Kapitulierens. Was den Irak betrifft, bin ich mit Salman Rushdie einverstanden: Das Land wird von einem Tyrannen beherrscht. Das Volk hat ein Recht darauf, von ihm befreit zu werden. Was mich erstaunt, ist die Tatsache, daß viele Menschen auf die Straße gehen, um gegen einen Krieg zu protestieren, der bislang ein virtueller ist. Und daß niemand gegen den tatsächlichen Krieg protestiert, wie ihn die Russen in Tschetschenien führen - und zwar mit Methoden des Terrors und gegen die Zivilbevölkerung.

André Glucksmann ist Philosoph und Clausewitz-Experte. Er stand am Anfang der antitotalitären Aufklärung durch die "Neuen Philosophen".

Luc Bondy: Vive l'Europe!.

Was einen an dieser Sache so skandalisiert: daß hier Leute mit höchster Phantasielosigkeit am Werk sind, Verbrecher, die mit dem Krieg spielen. Und man sitzt als Zuschauer dabei und ist dazu verdammt, passiv und ohnmächtig mitzuerleben, wie etwas völlig Unnötiges passiert. Denn keiner kann einem sagen, wozu dieser Krieg gut sein soll. Wenn Herr Rumsfeld nun verächtlich sagt, das friedenssüchtige Europa sei eben "das alte Europa", dann ehrt uns dies. Wenn das alte Europa, das den Krieg gekannt hat, nun die Vernunft und die Raison besitzt, den Krieg nicht mehr zu wollen, dann bin ich für dieses alte Europa, das das neue Europa ist.

Der Regisseur Luc Bondy, Jahrgang 1948, ist Intendant der Wiener Festwochen.

Jacques Derrida: Schockierend.

Meine Reaktion läßt sich kurz fassen: Ich finde einen solchen Ausspruch schockierend, skandalös und bezeichnend. Bezeichnend für die Unkenntnis darüber, was Europa war, was es ist und sein wird. Die Äußerung des amerikanischen Verteidigungsministers macht wohl unfreiwillig gerade deutlich, wie dringlich die Aufgabe der europäischen Einigung ist.

Jacques Derrida lehrt Philosophie an der "Ecole Normale Supérieure" in Paris.

Alice Schwarzer: Der Tod der anderen.

Der Ton ist entlarvend. Die in der Tat überwältigende Weltmacht Amerika scheint es inzwischen überhaupt nicht mehr gewohnt zu sein, daß ihr widersprochen wird. Auch nicht in Fragen, bei denen es um Leben und Tod geht - den Tod der anderen. Und dabei gehen die elementarsten Werte ganz en passant über die Wupper: So soll, man höre und staune, nicht etwa der Ankläger (die Vereinigten Staaten) die Schuld des Angeklagten (Saddam Hussein) beweisen - sondern der Angeklagte soll seine Unschuld beweisen. Und auch für Europa ist die amerikanische Strategie nun unverhüllt die der knallharten Faust: Das "alte" Europa soll gegen das "neue" ausgespielt werden (nachdem Bush sich mit Putin den Ölmarkt aufgeteilt hat). Für mich, die Rheinländerin und langjährige Wahl-Pariserin, war die Feier der vierzigjährigen deutsch-französischen Freundschaft gestern ein wahrhaft bewegender Moment. Ich war stolz. Auch auf den deutschen Kanzler. Denn er ist, was immer seine Motive sein mögen, zur Zeit führend bei dem Versuch