Die neuen Kriege

Privatisierte Gewalt: Der Terrorismus fordert immer mehr zivile Opfer

Tagblatt (CH) 02.12.2002

Von Herfried Münkler *)

Die Ära der Staatenkriege ist offenkundig zu Ende: Nur noch wenige der in den letzten beiden Jahrzehnten weltweit geführten Kriege waren bzw. sind zwischenstaatliche Kriege im klassischen Sinne. Auch wenn an fast allen Kriegen Staaten beteiligt sind, werden die meisten doch von nichtstaatlichen Akteuren bestimmt: Clanchefs, Rebellenführer und Warlords haben das Heft des Handelns übernommen, und Staaten sind in sie zumeist nur reaktiv verwickelt. Damit haben sich aber auch die der jeweiligen Kriegführung zugrunde liegenden Rationalitäten verändert - mit dramatischen Konsequenzen. Kommerzielle Motive sind in die Kriegführung eingedrungen, asymmetrische Strategien zu bevorzugten Aktionsmustern aufgestiegen, und all dies hat zur Folge, dass Friedensschlüsse schwieriger und fragiler geworden sind.

Friede ist eine Illusion

Die Erfahrung zweier verheerender Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte dazu geführt, dass die Verhinderung von Kriegen zum wichtigsten Imperativ staatlicher Politik und der auf ihr begründeten internationalen Organisationen wurde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte es für kurze Zeit den Anschein, als könne die über Jahrhunderte durch Kriege geprägte Staatenwelt in eine Epoche stabilen und dauerhaften Friedens eintreten. Dass sich diese Erwartung freilich schon bald als Illusion erwies, war im wesentlichen eine Folge der Entstaatlichung des Krieges, der zunehmenden Asymmetrisierung militärischer Strategien sowie der wachsenden Verselbständigung der Gewaltoptionen. Mit der Errichtung des staatlichen Gewaltmonopols war auch eine konsequente Trennung von Erwerbsleben und Gewaltanwendung durchgesetzt worden. Es ist ein Merkmal der neuen Kriege, dass dies bei ihnen nicht mehr der Fall ist. Die an ihnen Beteiligten sind zu «Gewaltunternehmern» geworden, die sich ihren Lebensunterhalt durch Gewaltanwendung oder die Errichtung eines Gewaltregimes sichern. Das reicht von Bürgerkriegsgenerälen, die Bohr- und Schürfrechte in den von ihnen kontrollierten Gebieten an internationale Konzerne verkaufen, bis zu den vielfältigen Verbindungen lokaler Warlords mit der internationalen Kriminalität, bei denen der Handel mit Rauschgift, Diamanten, Tropenhölzern, Giftmüll und Frauen zur dauerhaften Erwerbsquelle geworden ist. Vom Commandante der kolumbianischen Kokainguerilla bis zu den freiwilligen Kämpfern der Al Qaida gilt: Weil sie vom Krieg leben, haben sie kein Interesse am Frieden. Im Unterschied dazu hat der Staat seit der Aufstellung stehender Heere seine Soldaten versorgt - gleichgültig, ob sie im Feld standen oder in der Garnison lagen. Von Kriegern in Soldaten verwandelt, waren sie zur Existenzsicherung auf den Krieg nicht länger angewiesen, sondern wurden in ein Instrument der Staatenpolitik verwandelt, das der Durchsetzung bestimmter Ziele und Zwecke diente. Dazu mussten die Soldaten einer strikten Disziplin unterworfen werden, und das hiess vor allem, dass Rauben und Plündern, Morden und Vergewaltigen verboten waren und dieses Verbots mit drakonischen Strafandrohungen durchgesetzt wurde. Diese Verbote mögen in einer Reihe von Kriegen missachtet worden sein, doch bilden sie die Basis des modernen Kriegsrechts. Dagegen sind Rauben und Plündern, Morden und Vergewaltigen zu Hauptmerkmalen der neuen Kriege geworden, und nicht selten hat es den Anschein, deren wichtigster Zweck sei die Lizenz zu ungehemmter Gewaltanwendung.

Keine Schlachten, sondern Massaker

Die klassischen Staatenkriege wurden zumeist in Schlachten entschieden, und deren Ausgang war die Grundlage für den anschliessenden Friedensschluss. In den neuen Kriegen dagegen finden kaum noch Schlachten statt, Friedensschlüsse der herkömmlichen Art sind selten geworden. An die Stelle der Schlacht ist das Massaker getreten, der Kampf zwischen Soldaten ist abgelöst worden durch Gewalt gegen Zivilisten, und wenn überhaupt eine Chance besteht, den Krieg zu beenden, dann nicht durch Friedensschlüsse, sondern durch Friedensprozesse. Im Verlauf von Monaten und Jahren sollen die auf den Krieg fixierten Akteure an einer Friedensdividende interessiert werden, die für sie auf Dauer attraktiver ist als die Einnahmen, die durch Gewaltanwendung erzielt werden. Diese Umorientierung muss häufig durch die Präsenz einer Interventionsstreitmacht gesichert werden, die mit militärischen Mitteln den Rückfall in die Gewaltoption unterbindet. Der Krieg der militärischen Entscheidungsschlachten war an sozio-politische Voraussetzungen gebunden, die inzwischen nicht mehr vorhanden sind: vor allem an die Dominanz von Akteuren (in der Regel Staaten), die etwa gleich stark sind und sich wechselseitig als Gleiche anerkennen. Nur so waren jene Formen der Ritualisierung, Konventionalisierung und Verrechtlichung des Krieges möglich, wie sie das in Europa entstandene Kriegsvölkerrecht kennzeichnen. Aber schon die Partisanenstrategien der antiimperialen und antikolonialen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts haben die Voraussetzungen einer symmetrischen Kriegführung unterhöhlt. Auf die militärische Überlegenheit der Besatzungs- und Kolonialmächte wurde mit Strategien der Asymmetrisierung geantwortet, die den Krieg aus seiner Begrenzung aufs Schlachtfeld gelöst und in Raum und Zeit ausgeweitet haben. Der strategische Bombenkrieg in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs hat funktional Ähnliches bewirkt.

80 Prozent zivile Opfer

Die Hegung des Krieges als konventionalisierte, verrechtlichte Gewaltanwendung von Soldaten gegen Soldaten ist also von unterschiedlichen Richtungen her aufgebrochen worden: aus Positionen der Schwäche, wie im Fall der Partisanen, und aus Positionen militärtechnologischer Überlegenheit, wie im Falle der Luftkriegsführung. Welche Folgen dies hat, zeigt ein Zahlenvergleich: Waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 90 Prozent der bei Kriegshandlungen Verwundeten und Getöteten Soldaten und nur 10 Prozent Zivilisten, so hat sich dieses Verhältnis am Ende des 20. Jahrhunderts ins Gegenteil verkehrt. Etwa 20 Prozent Kombattanten stehen in der Opferbilanz 80 Prozent Nonkombattanten gegenüber. Waren die zwischenstaatlichen Kriege durch eine permanente Rüstungsspirale gekennzeichnet, bei der die Oberhand erlangte, wer über einen längeren Zeitraum zu grösseren Anstrengungen in der Lage war - und da dies nur Staaten vermochten, begünstigten die Rüstungsspiralen über lange Zeit den Staat als Monopolisten des Krieges -, so sind die neuen Kriege buchstäblich billige Kriege. Da sie nicht mit teurem, wartungsintensiven und nur von Spezialisten zu bedienenden militärischen Grossgerät geführt werden, sondern in ihnen vorwiegend automatische Gewehre (vor allem die billige und unverwüstliche Kalaschnikow), leichte Raketenwerfer sowie Landminen eingesetzt werden, und da die militärische Logistik auf einem «dual use» zivilen Geräts beruht (Symbol dafür sind die Toyota-Pick-ups), wurden die Eintrittsschwellen dieser Kriege immer weiter gesenkt, bis schliesslich auch zahlungskräftige Privatleute als Kriegsunternehmer auftreten konnten. Der bekannteste unter ihnen ist zurzeit der saudische Multimillionär Osama bin Laden. War der Krieg der Staaten eine komplexe Angelegenheit, bei der die einzelnen Elemente der Gewaltanwendung als Taktiken in eine politisch-militärische Strategie integriert waren, so ist es inzwischen zu einer Verselbständigung ehemals untergeordneter taktischer Formen des Gewaltgebrauchs zu eigenständigen Strategen gekommen, in deren Gefolge auch mit bescheidenen Mitteln gegen eine Supermacht Krieg geführt werden kann. Die jüngsten terroristischen Anschläge von New York bis Bali und Kenia sind Beispiele dafür.

Verheerende Folgen

Alle Kriege beruhen auf ökonomischen Voraussetzungen, die sicherstellen, dass die Gewaltanwendung nicht mangels kontinuierlicher Ressourcenzuführung zum Erliegen kommt. In den klassischen Staatenkriegen war es die regelmässige Abschöpfung des gesellschaftlichen Mehrprodukts mittels Steuern sowie die Aufnahme von Staatsschulden, durch die der Krieg finanziert wurde. Die Folgen dieser Form der Kriegsfinanzierung waren oft drückend und eine Last für die zukünftigen Generationen, aber sie vernichteten zumeist nicht die Grundlagen des wirtschaftlichen Lebens nach dem Ende des Krieges. Das ist bei den meisten der neuen Kriege anders: Sie finanzieren sich durch Raubökonomien und vernichten die wirtschaftlichen Grundlagen ganzer Länder und Generationen. Sie werden durch den Handel mit illegalen Gütern, durch Kooperation mit der international organisierten Kriminalität, durch regelmässige Spendenzuflüsse von Emigrantengemeinden und ähnliches finanziert. Das ist zugleich der Grund, warum die neuen transnationalen Kriege in der Regel viel länger dauern als klassische zwischenstaatliche Kriege: Der Krieg in und um Angola hat, wenn er denn jetzt tatsächlich zu Ende gehen sollte, fast dreissig Jahre gedauert, der in Afghanistan dauert seit über zwanzig Jahren, der in Somalia fast ebenso lange. Man wird davon ausgehen müssen, dass es solche Kriege sind, die das 21. Jahrhundert prägen werden.

Das Zeitalter der asymmetrischen Kriege

Die jüngsten Terroranschläge in Kenia, Bali und Tunesien erinnern uns daran, dass die heutigen Kriege keine zwischenstaatlichen, sondern asymmetrische Kriege sind. Dezentral organisierte Terrorgruppen und Netzwerke, deren Mitglieder sich aus verschiedenen Ländern rekrutieren, führen Krieg gegen ein Land. Die Strategen des Terrors wollen bei minimalem Eigenaufwand dem Feind maximalen Schaden zufügen; die Chancen, zu töten und getötet zu werden, sind ungleich verteilt. Die «privatisierte» kriegerische Gewalt ist jedoch kein neues Phänomen. Von den nach 1945 weltweit geführten Kriegen sind nur ein Drittel zwischenstaatlicher Natur. Bei den restlichen zwei Dritteln handelt es sich um Kriege, in denen sich lokale Milizen, international rekrutierte Guerillagruppen, weltweit agierende Terrornetzwerke sowie regionale Kriegsfürsten bekämpften. Folge dieser Entwicklung ist eine Aushöhlung des Kriegsrechts und eine immer grössere Zahl an zivilen Opfern.

Herfried Münkler, 1951 geboren, ist Professor für politische Theorie an der Humboldt-Universität in Berlin und Autor des Buches «Die neuen Kriege» (erschienen bei Rowohlt, 2002). <<<<< zurück